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Niemand hat bislang die Macht der menschlichen Spezies bestimmt ... was sie instinktiv tun kann und was sie mit rationaler Entschlossenheit zu erreichen vermag.
Objektive Mentaten-Analyse der menschlichen Kapazitäten
Dominic Vernius steuerte den Leichter im Schutz der Wolken durch die ixianischen Überwachungssysteme. Er flog tief über die unberührte Oberfläche seiner verlorenen Heimatwelt hinweg und nahm den Anblick der Berge, Wasserfälle und dunklen Kiefernwälder an den steilen Granithängen tief in sich auf.
Als ehemaliger Herrscher von Ix kannte Dominic tausend Wege, die in diese Welt hineinführten. Er hoffte, dass zumindest einer davon noch ein sicheres Durchkommen ermöglichte.
Er kämpfte seine Tränen der Angst zurück und flog weiter, ganz auf sein Ziel konzentriert. Im gesamten Imperium war Ix für seine Industrie und Technik bekannt, für die wunderbaren Produkte, die der Planet über die MAFEA exportierte. Schon vor langer Zeit hatte das Haus Vernius entschieden, die Oberfläche nicht anzutasten, sondern die unansehnlichen Produktionsstätten in den tiefen Untergrund zu verlegen. Dadurch wurde gleichzeitig die Sicherheit erhöht und ein besserer Schutz der wertvollen ixianischen Geheimnisse gewährleistet.
Dominic erinnerte sich noch genau an die Verteidigungssysteme, die er selbst entworfen und installiert hatte, aber auch an jene, die schon seit Generationen in Betrieb waren. Die Gefahr der Industriespionage durch Konkurrenten wie Richese war stets so groß gewesen, dass die Ixianer niemals in ihrer Wachsamkeit nachgelassen hatten. Zweifellos hatten die Tleilaxu-Eroberer eigene Schutzmaßnahmen getroffen, aber sie konnten nicht alle von Dominics persönlichen Kniffen entdeckt haben. Dazu hatte er sie viel zu gut getarnt.
Ein organisiertes Überfallkommando mochte zum Scheitern verurteilt sein, doch Graf Vernius war überzeugt, dass er trotzdem einen Weg ins Innere seiner Welt finden würde. Er musste sie sich mit eigenen Augen ansehen.
Obwohl jeder der versteckten Eingänge ins unterirdische Reich die Wirksamkeit der gesamten Sicherheit verringerte, war sich Dominic bewusst gewesen, dass Notausgänge und Geheimwege, die nur er und seine Familie kannten, von größter Wichtigkeit waren. Tief im Innern seines geliebten Vernii, der Hauptstadt in der Planetenkruste, hatte es zahlreiche abgeschirmte Kammern, verborgene Tunnel und Fluchtwege gegeben. Dominics Kinder und der junge Leto Atreides hatten diese Schlupflöcher während des blutigen Umsturzes benutzt. Jetzt wollte Dominic über eine dieser gut gesicherten Hintertüren hineinschlüpfen.
Er flog mit dem Leichter über eine Reihe schlecht getarnter Lüftungsschächte, aus denen Dampf quoll, als wären es vulkanische Quellen. An anderen Stellen öffneten sich riesige Schächte und Frachtplattformen in ebenen Flächen, die hauptsächlich dazu dienten, Waren nach draußen zu schaffen. In dieser dicht bewaldeten Schlucht konnten Schiffe auf schmalen Vorsprüngen oder in Mulden landen. Dominic untersuchte das Terrain während des Ausflugs, bis er die subtilen Zeichen entdeckt hatte, die umgestürzten Bäume und die Flecken an den zerklüfteten Felswänden.
Die erste getarnte Eingangstür war versiegelt und der Tunnel offenbar mehrere Meter tief mit solidem Plastbeton gefüllt. Die zweite Tür war mit einer Falle ausgestattet worden, doch Dominic entdeckte die Sprengsätze, bevor er seinen Passiercode durchgab. Er versuchte gar nicht erst, die Vorrichtung zu entschärfen, sondern flog weiter.
Dominic hatte Angst vor dem, was er in seiner einstmals wunderschönen Stadt vorfinden mochte. Die schrecklichen Nachrichten, die der ixianische Patriot C'tair Pilru durchgegeben hatte, ergänzten sich mit den Gerüchten, die seine bestochenen Informanten über die Zustände auf Ix lieferten. Jetzt wollte er Tatsachen wissen – was die Tleilaxu und die verdammten Corrinos seinem geliebten Planeten angetan hatten.
Danach sollten sie alle dafür büßen.
Schließlich landete Dominic den Leichter in einer Mulde, die von dunklen Kiefern umstanden war. Er hoffte, dass die Überwachungssysteme ihn immer noch nicht bemerkt hatten, und trat nach draußen. Er atmete die kalte, klare Luft ein, den würzigen Duft der Kupferkiefernnadeln und die kristallene Feuchtigkeit fließenden Wassers. In den Höhlen, die unter einer kilometerdicken Felsschicht lagen, war die Luft warm und abgestanden, gesättigt von chemischen und menschlichen Ausdünstungen. Er glaubte fast, die vertrauten Geräusche der Stadt und ein schwaches Vibrieren des Bodens wahrnehmen zu können.
Er fand die von Gebüsch überwachsene Luke des Fluchttunnels und bediente die Kontrollen, nachdem er die Umgebung sorgfältig auf Fallen und Sprengsätze untersucht hatte. Falls die Tleilaxu diesen Eingang gefunden hatten, waren sie äußerst geschickt vorgegangen. Aber er stellte keine verräterischen Anzeichen fest. Dann wartete er ab und hoffte, dass die Systeme immer noch funktionierten.
Im frischen Wind hatte er bereits eine Gänsehaut bekommen, als sich endlich eine automatische Liftkammer aus dem Boden erhob. Sie sollte ihn tief ins Höhlenlabyrinth und in einen geheimen Lagerraum bringen, der sich an der Rückseite dessen befand, was früher einmal das Große Palais gewesen war. Es handelte sich um einen von mehreren Räumen, die er in jungen Jahren für gewisse ›Eventualitäten‹ eingerichtet hatte. Das war noch vor der Ecazi-Revolte gewesen, noch vor seiner Heirat ... und lange Zeit vor der Tleilaxu-Invasion. Der Raum musste sicher sein.
Dominic flüsterte Shandos Namen und schloss die Augen. Die Kabine stürzte mit angsteinflößender Geschwindigkeit in die Tiefe. Jetzt hoffte er, dass diese verborgenen Systeme nicht durch C'tairs Sabotageversuche beschädigt worden waren. Er atmete tief durch und holte Bilder aus seiner Vergangenheit auf die Projektionsfläche seiner Augenlider. Er sehnte sich danach, in die magische Höhlenstadt zurückzukehren – und gleichzeitig fürchtete er sich vor der grausamen Realität, die ihn dort erwartete.
Als die Liftkabine anhielt, trat Dominic mit einer kompakten Lasgun in den Händen hinaus. Im Schulterholster führte er außerdem eine Maula-Pistole mit sich. Der dunkle Lagerraum roch nach Staub, Schimmel und langer Unbenutztheit. Hier hatte sich seit Jahren niemand mehr aufgehalten.
Er bewegte sich vorsichtig und trat an den versteckten Schrank, in dem er zwei unauffällige Overalls verstaut hatte, wie sie von Arbeitern der mittleren Schichten getragen wurden. Er hoffte, dass die Tleilaxu keine drastischen Änderungen an den Arbeiteruniformen vorgenommen hatten, und zog sich einen Overall an. Die Lasgun steckte er in eine eigens angefertigte Tasche, die er unter der Kleidung direkt am Körper trug.
Dominic wusste, dass er jetzt nicht mehr umkehren konnte. Er kroch durch die düsteren Korridore und stieß auf ein Panoramafenster aus Plaz. Nach zwei Jahrzehnten konnte er wieder einen Blick auf die verwandelte unterirdische Stadt werfen.
Er blinzelte fassungslos. Das einstmals prächtige Große Palais war geplündert worden. Der glitzernde Marmor war vollständig verschwunden und ein ganzer Flügel durch eine Explosion zerstört. Das riesige Gebäude machte nun den Eindruck eines heruntergekommenen Lagerhauses, es war nicht mehr als eine hässliche Beamtenkaserne. Durch die Plazscheiben sah er widerliche Tleilaxu, die wie Küchenschaben umhereilten und ihren Geschäften nachgingen.
Vor dem projizierten Himmel erkannte er längliche Flugkörper mit blinkenden Lichtern, die auf zufälligen Bahnen jede Bewegung verfolgten. Überwachungskapseln. Militärisches Gerät aus ixianischer Fertigung, das in Kriegsgebieten zum Einsatz kommen sollte. Jetzt setzten die Tleilaxu dieselbe Technik ein, um sein Volk auszuspionieren, damit es sich ständig vor Angst niederkauerte.
Angewidert suchte Dominic weitere Beobachtungsfenster in der Höhlendecke auf und näherte sich einigen Menschengruppen. Er blickte in gebrochene Augen und ausgemergelte Gesichter und machte sich bewusst, dass es keine Gestalten aus einem Alptraum waren, sondern sein Volk. Er wollte mit diesen Menschen reden, ihnen Mut machen und versprechen, dass er etwas unternehmen würde, und zwar bald. Aber er durfte sich nicht zu erkennen geben. Er wusste noch nicht genug über die Veränderungen seit der Vertreibung seiner Familie.
Diese loyalen Ixianer hatten sich auf Dominic Vernius verlassen, ihren rechtmäßigen Herrscher, und er hatte sich der Verantwortung für sie entzogen. Er war geflohen und hatte sie alle ihrem Schicksal überlassen. Sein Magen verkrampfte sich, als er von einem unerträglichen Schuldgefühl überwältigt wurde.
Dominic suchte in der Höhlenstadt nach den besten Beobachtungspunkten und den am schwersten bewachten Industriekomplexen. Manche waren geschlossen und aufgegeben, andere durch summende Abschirmungsfelder gesichert. Auf dem Boden der Grotte arbeiteten Suboiden und Ixianer gemeinsam wie geknechtete Sklaven.
Dann flammten Lichter an den Balkonen des verunstalteten Großen Palais auf. Lautsprecher ertönten und ließen die synchronisierten Worte wie mächtige Wellen durch die Grotte hallen.
»Volk von Xuttuh«, sagte eine akzentbehaftete Stimme auf Galach, »wir suchen weiter nach den Parasiten in unserer Mitte. Wir tun alles Notwendige, um die Krebsgeschwüre der Verschwörer und Verräter auszumerzen. Wir Bene Tleilax haben großzügig Ihre Versorgung übernommen und Sie zu einem Teil unserer heiligen Mission gemacht. Deshalb werden wir alle bestrafen, die Sie von Ihren wichtigen Aufgaben abbringen wollen. Sie müssen Ihre neue Stellung im Universum verstehen und akzeptieren!«
Auf dem Höhlenboden erkannte Dominic Trupps von Soldaten, die Arbeiter zusammentrieben. Sie trugen die unverkennbaren grau-schwarzen Uniformen der Sardaukar und tödliche imperiale Waffen. Also versuchte Shaddam gar nicht mehr, seine Verwicklung in die Angelegenheit zu verschleiern. Dominic kochte vor Wut.
Auf einem Balkon des Großen Palais wurden zwei eingeschüchterte Gefangene von Sardaukar und Tleilaxu-Meistern nach vorn gebracht. Wieder ertönten die Lautsprecher. »Diese beiden wurden bei der Sabotage an lebenswichtigen Industrien ertappt. Während der Befragung identifizierten sie weitere Verschwörer.« Es folgte eine unheilverkündende Pause. »Noch in dieser Woche ist mit weiteren Exekutionen zu rechnen.«
Nur vereinzelte Stimmen in der Menge wagten zu protestieren. Hoch oben drängten die Sardaukar die um sich schlagenden Gefangenen zum Rand des Balkons. »Tod allen, die sich uns widersetzen!« Die Wachen – imperiale Sardaukar – stießen sie über den Rand, und tief unten lief die Menge auseinander. Die Opfer fielen durch den Abgrund aus leerer Luft und stießen grauenerregende Schreie aus, die abrupt verstummten.
Dominic sah alles entsetzt mit an. Er war schon viele Male auf denselben Balkon getreten, um Ansprachen zu halten. Von dort hatte er sich an seine Untertanen gewandt, hatte ihre Arbeit gelobt und Belohnungen für jede Steigerung der Produktivität versprochen. Eigentlich hätte der Balkon des Großen Palais ein Ort sein sollen, mit dem das Volk die Güte ihrer Herrscher verband – und keine Hinrichtungsbühne.
Von unten waren Schüsse und das Zischen von Lasguns zu hören. Die Sardaukar griffen hart durch, um in der wütenden und aufgeregten Bevölkerung die Ordnung wiederherzustellen.
Die verstärkte Stimme gab eine weitere Strafmaßnahme bekannt. »In den nächsten drei Wochen werden die Rationen um zwanzig Prozent reduziert. Die Produktivität wird ihren derzeitigen Stand beibehalten, ansonsten wird es zu weiteren Einschränkungen kommen. Falls sich Freiwillige melden, die Namen bislang unbekannter Verschwörer nennen, werden sie großzügige Belohnungen erhalten.«
Die selbstgefälligen Tleilaxu-Meister kehrten mit wehenden Gewändern um und folgten den Sardaukar zurück ins geschändete Palais.
In seinem Zorn wäre Dominic am liebsten in die Stadt gestürmt und hätte das Feuer auf die Sardaukar und Tleilaxu eröffnet. Doch ganz allein als heimlicher Spion konnte er höchstens symbolischen Widerstand leisten. Aber er wollte seine Identität nicht für eine so sinnlose Geste offenbaren.
Er hatte so heftig mit den Zähnen geknirscht, dass ihm nun der Kiefer schmerzte. Er hielt sich am Geländer fest und erkannte, dass er vor langer Zeit mit seiner Braut Lady Shando genau auf dieser Beobachtungsplattform gestanden hatte. Sie hatten sich an den Händen gehalten und auf die gewaltige Höhle mit den märchenhaften Gebäuden von Vernii geblickt. Sie hatte elegante Kleidung vom imperialen Hof getragen, und ihre Augen hatten hell gestrahlt.
Doch der Imperator hatte die Beleidigung niemals vergessen, dass sie ihm den Dienst als Konkubine aufgekündigt hatte. Elrood hatte viele Jahre auf eine Gelegenheit zur Rache gewartet, und ganz Ix hatte dafür büßen müssen ...
Auf Dominics Brust schien eine gewaltige Last zu drücken. Er hatte alles gehabt – Reichtum, Macht, einen wohlhabenden Planeten, eine vollkommene Frau, eine gute Familie. Nun war die Höhlenstadt schwer verwundet, und kaum noch etwas erinnerte an ihre ehemalige Pracht.
»Sieh nur, was sie getan haben, Shando!«, flüsterte er verzweifelt, als würde sie in Geistergestalt an seiner Seite wandeln. »Sieh nur, was sie angerichtet haben!«
Er blieb längere Zeit in Vernii und wälzte Vergeltungspläne. Und als er sich für die Abreise bereitmachte, wusste Dominic Vernius genau, was er tun würde, um zurückzuschlagen.
Die Geschichte würde seine Rache niemals vergessen.